Ein schöner Tag?

Als ich morgens aus dem Fenster schaute, dachte ich: „Heute ist ein schöner Tag…für viele da draussen…“
Ich hatte heute einen besonderen Auftrag und ich würde eine Familie begleiten, die ich schon eine Weile kenne und für die es kein schöner Tag sein würde.
Ich hatte alles schon ins Auto gepackt und ging noch einmal in Ruhe durch den Garten. Ich nahm zwei wunderschöne grosse Blüten von meiner gelben, duftenden Rose und füllte die Blütenblätter in mein kleines, weisses Holzkistchen für den Transport.
Dann ging ich zum Auto und fuhr los. Ich bin immer gerne etwas früher da und als ich auf dem Friedhof ankam, erwartete mich der Friedhofsgärtner. Man kennt sich.
„Sollen wir eben zusammen schauen, ob ich alles recht gemacht habe für heute?“, fragte er mich und wir gingen gemeinsam zu den ganz kleinen Grabstätten. Er hatte noch extra den Rasen gemäht und alles schön ausgehoben.
„Ja, ich habe extra darauf geachtet, dass noch eine kleine Erdschicht drauf ist und man nichts sieht.“ Ich bedankte mich für seine Umsichtigkeit und begann, die kleine Deko aufzubauen und alles vorzubereiten.
Die Vögel zwitscherten, die Sonne schien - es war ein schöner Tag!
Der Opa des Jungen vom Nachbargrab kommt vorbei - eben schauen, dass alles gut aussieht. Die Rasenkante ordentlich machen, ein bisschen harken.
Als er mich sieht und das ausgehobene Grab nebenan, fragt er mich entsetzt: „Was bedeutet das? Kommt da noch ein Kind rein?“
„Ja“, antworte ich, „wir setzen heute in diesem Grab das zweite verstorbene Kind der Familie bei.“
Ich konnte den Schmerz in seinen Augen sehen. Wir hatten gerade erst vor fünf Monaten seinen kleine Enkel zusammen beigesetzt.
„Entsetzlich! Ich mag mir das gar nicht ausmalen“, sagte er.
Er nahm noch einmal seine kleine Harke und schaute, dass alles schön und ordentlich aussieht - auch auf den Nachbargräbern. Dann verabschiedeten wir uns und ich wartete auf die Familie, die heute ihr zweites Kind innerhalb von einem Jahr beisetzen würde. Gemeinsam würden wir es schaffen…
Nachdem ich mich vom Opa des Nachbargrabes verabschiedet hatte, wartete ich auf die Familie. Ich setzte mich auf die Bank und lauschte den Vögeln. „So ein schöner Tag“, dachte ich. Dann sah ich die Familie den Weg hochkommen.
Sie begannen, noch weiter zu dekorieren. Wunderschöne Blumen hatten sie mitgebracht und den gleichen Engel wie beim letzten Mal. Es kam aber noch ein weiterer hinzu.
Auch ihren Sohn im selbstgestalteten Schiffchen hatten sie mitgebracht und nun auf dem kleinen Stühlchen platziert. Die Mama kniete davor und die Tränen liefen.
„Warum?“
„Nein, das kann nicht sein!“
„Ich möchte mein Baby in meinem Bauch haben und nicht hier begraben müssen!“
Das mögen vielleicht ihre Gedanken gewesen sein. Vor allem aber sah ich ihren Schmerz.
Aus der Tasche wurden dann noch die Seifenblasen für hinterher geholt und Proviant für die grosse Schwester. Es fühlte sich ganz normal an, dass da neben dem Blumenschmuck, dem Schiffchen und dem offenen Grab noch eine Trinkflasche und eine Tüte Kekse auf dem Rasen standen.
Irgendwann waren wir so weit und das erste Lied wurde abgespielt. Kaum hatte es begonnen, fuhr die Feuerwehr mit Blaulicht und Martinshorn vorbei. Man könnte es als schlecht geplante Störung empfinden, aber ich sagte in den ersten Worten meiner Ansprache: „Bei manchen klingen die Friedhofsglocken, aber für diesen kleinen Jungen könnte es doch passender nicht sein, ihn mit Blaulicht und Martinshorn zu geleiten!“ und alle stimmten nickend zu.
Es war eine kurze Zeremonie, die wir dieses Mal ein bisschen anders gestaltet hatten. Aber sie war voll tiefer Liebe. Nachdem die Eltern das Schiffchen selbst in das Grab gelassen hatten, gab es Blütenblätter - en masse - ganz besonders von der grossen Schwester. Als ich sie beobachtete, dachte ich für einen Moment: „Es sieht gerade so aus, als sei es das normalste auf der Welt, dass dieses kleine Mädchen Blütenblätter in das Grab ihrer verstorbenen Geschwister wirft“, und im selben Moment wurde mir die Tragik dessen bewusst…
Wir beendeten die Beisetzung mit vielen wunderschönen kleinen Seifenblasen.