Sonntagsbesuch

Es ist Sonntagmorgen. Heute bin ich mit besonderer Bewegung im Herzen aufgewacht - wusste ich doch, dass ich einen besonderen Besuch vor mir haben würde.
Um Punkt 9 Uhr berührt mein Finger diese Klingel und ich höre es läuten. Die Tür öffnet sich und Schwester Sarah kommt auf mich zu.
„Ich bin hier für Laras Eltern“, sage ich. Sie lächelt mich an und nickt. „Wir sind froh, dass du da bist! Komm, ich bring dich hin!“

Überall piepst es - so auch in Laras Zimmer. Ihre Eltern stehen um ihr Bettchen und bemerken mich erst nicht. Ich bleibe stehen und beobachte. Für den Bruchteil einer Sekunde will der Gedanke an die Oberfläche kommen „Was wäre, wenn ich…“, aber er darf gleich wieder gehen, denn ich habe meine Aufgabe hier.

Anja und Patrick nehmen mich wahr und wir begrüssen uns. „Danke, dass du gekommen bist! Es ist alles so schwer und wir wissen nicht, wie wir das schaffen sollen!“ Ich versichere Ihnen, dass wir an ihrer Seite sind und sie unterstützen.

Lara kam mit einer gut operablen Beeinträchtigung zur Welt. Sie wurde zeitnah operiert und meisterte diese Op wunderbar. Doch es gab im Nachgang Komplikationen - nicht ungewöhnlich. Sie musste zweimal an die ECMO - ein Gerät, dass die Herz-Lungen-Funktion unterstützt bzw. übernimmt. Durch den Einsatz der ECMO wurde ihr Gehirn so sehr geschädigt, dass sie nun so gut wie keine Hirnfunktion mehr hatte.

Meine Aufgabe war es nun, den Abschied langsam und im Tempo der Eltern einzuläuten. Solche Prozesse benötigen viel Zeit und Aufmerksamkeit. Es sind nur kleinste Schritte möglich. Da die Kinder durch Maschinen und Medikamente am Leben gehalten werden, ist es für die Eltern emotional überhaupt nicht zu verstehen, dass ihr Kind sterben wird. Daher braucht es viel Feingefühl und eine gute Zusammenarbeit aller, damit dieser Weg geebnet wird.

Patrick und Anja erzählen mir viel von Lara und ich führe sie vorsichtig an die Dinge, die noch wichtig sind, bevor Lara sterben wird. Durch die Maschinen und Medikamente haben wir Zeit, alles in Ruhe zu planen.
So besprechen wir, dass Lara auf jeden Fall noch getauft werden soll. Am liebsten vom Familienpfarrer, der aber zwei Stunden entfernt wohnt. Er willigt bei Nachfrage sofort ein, diesen besonderen Dienst zu übernehmen.

Auch sollen die Geschwister, Grosseltern und Paten sie noch einmal lebend sehen.

Wir verabreden, dass ich schon mal den Bestatter aus dem Wohnort ins Boot hole, damit auch da der Weg geebnet ist.

Nach mehr als einer Stunde verabschiede ich mich von Anja und Patrick - und von Lara - einem wunderschönen, so erwünschten kleinen Mädchen, dass fast drei Wochen später nach 105 Tagen ganz ruhig in den Armen der Eltern stirbt, ohne jemals vorher das Krankenhaus verlassen zu haben💞